März 1933
Nach einem seitens der NSDAP mit hohem Aufwand geführten Wahlkampf wurde die Partei bei den Reichstagswahlen am 5. März 1933 mir 43,9 Prozent zwar zur deutlich stärksten Kraft, verfehlte mit 288 von 647 Mandaten die absolute Mehrheit aber deutlich. Die verschaffte ihr erst eine Koalition mit der „Kampffront Schwarz-Weiß-Rot“ aus DNVP und Stahlhelm, die 8 Prozent der Stimmen erzielt hatte. In immerhin sieben der 35 Wahlkreise im Reichsgebiet erreichte die NSDAP aber über 50 Prozent, in Berlin, Nord- und Südwestfalen, der Rheinprovinz und in Hamburg blieb sie hingegen unter 40 Prozent. Mit 88,8 Prozent wurde zugleich die höchste bis dahin bei einer Reichstagswahl jemals erzielte Wahlbeteiligung erreicht. Die SPD landete bei 18,3 Prozent, das Zentrum bei 11,2 und die KPD – trotz Verboten und Verfolgung – immerhin noch bei 12,3. Bei der zeitgleich durchgeführten Wahl zum preußischen Landtag lagen die Stimmverhältnisse ähnlich. Nur drei Tage nach der Wahl wurden die 81 Reichstagsmandate der KPD auf Grundlage der „Reichstagsbrandverordnung“ kurzerhand annulliert und die Berliner KPD-Parteizentrale enteignet.
Nachdem am 12. März auch die Kommunalwahlen in Preußen absolviert waren, verlas Hitler einen Erlass Hindenburgs, wonach vom nächsten Tag an „bis zur endgültigen Regelung der Reichsfarben die schwarz-weiß-rote Fahne und die Hakenkreuzfahne gemeinsam“ zu hissen seien, um so die „ruhmvolle Vergangenheit des Deutschen Reiches und die kraftvolle Wiedergeburt der deutschen Nation“ zu verknüpfen. Die NSDAP hatte sich im politischen Bereich zumindest formal weitgehend durchgesetzt.
Dafür, dass das auch im öffentlichen Bewusstsein geschah, sorgte nicht zuletzt der 21. März, der unter dem Begriff „Tag von Potsdam“ zu einem der ereignisreichsten und wichtigsten Tage der frühen NS-Zeit wurde. Zunächst trafen am Morgen des Tages die neu gewählten Reichstagsabgeordneten zu einem Gottesdienst in der Potsdamer Garnisonkirche zusammen, was deutlich an preußische Traditionen anknüpfte. Beim Verlassen der Kirche bekräftigte dann ein symbolischer Händedruck zwischen Hitler und Hindenburg den „Bund des Marschalls mit dem Gefreiten“.
Am Nachmittag eröffnete schließlich Parlamentspräsident Hermann Göring den in die Berliner Kroll-Oper ausgewichenen Reichstag. Schon äußerlich wurde dabei der politische Wandel und dessen Folgen vor Augen geführt, prangte an der Stirnseite des Saals doch eine riesige Hakenkreuzfahne. Vor dieser erklärte Göring, die „heilige Flamme der nationalen Revolution“ habe das deutsche Volk ergriffen und 14 Jahre der Not seien nunmehr überwunden. Sämtliche deutsche Radiosender übertrugen den Staatsakt, sämtliche öffentliche Gebäude waren in schwarz-weiß-rot und mit Hakenkreuzfahne beflaggt, die Kinder hatten schulfrei und am Abend fanden allerorten nationalistisch geprägte Fackelzüge statt. – Alles in allem eine perfekte Inszenierung.
Der 21. März brachte in Form von drei Notverordnungen aber noch weitere gravierende Änderungen: NS-Verbrechen, die angeblich zur „Abwehr heimtückischer Angriffe gegen die Regierung der nationalen Erhebung“ begangen worden waren, wurden amnestiert, wodurch zahlreiche inhaftierte Täter aus dem NS-Lager wieder freigelassen werden mussten. Die neue „Heimtückeverordnung“ bedrohte fortan all jene mit harten Strafen, die Behauptungen aufstellten, die dem Regime geeignet erschienen, „das Wohl des Reiches oder eines Landes“, deren Regierungen oder hinter ihnen stehender Parteien und Verbände zu schädigen. Mittels einer weiteren Verordnung wurden „Sondergerichte“ installiert, die – ohne jedes Recht auf Berufung – all jene Delikte möglichst schnell und hart aburteilen sollten, die aus Sicht des NS-Regimes aufgrund der Reichstagsbrand- und der Heimtückeverordnung begangen wurden.
Schließlich wurde an diesem historischen 21. März durch die SA in Oranienburg auch das erste offizielle Konzentrationslager eingerichtet; am darauffolgenden Tag wurden dann die ersten 96 Häftlinge in das KZ Dachau eingeliefert. Bis Ende April 1933 sollte allein in Preußen die Zahl der häufig grausam misshandelten und gequälten KZ-Häftlinge auf mehr als 25.000 ansteigen, die zuvor im Rahmen von fast täglichen Überfällen oder Razzien der SA inhaftiert worden waren. Dabei waren die KZs keinesfalls eine geheime Angelegenheit. In oft mehrseitigen bebilderten Artikeln wurde in verzerrter, oft geradezu zynischer Form über deren Existenz und die „Wahrheit“ berichtet. Die Münchner Illustrierte Presse etwa sprach am 16. Juli von „Erholungsstunden im Erziehungslager“.
Zwei Tage nach dem Potsdamer Propagandaakt wurde am 23. März das sogenannte „Ermächtigungsgesetz“ verabschiedet. Hierzu war eine Zweidrittelmehrheit der Reichstagsabgeordneten notwendig, die jedoch problemlos erreicht wurde: Die Vorlage wurde mit 441 Stimmen angenommen, während es lediglich die 94 anwesenden SPD-Abgeordneten – die übrigen 26 befanden sich bereits in Schutzhaft oder waren emigriert – mutig ablehnten. Auch das Zentrum stimmte nach heftigen internen Diskussionen für das Gesetz, das am 24. März in Kraft trat und bis zum 1. April 1937 befristet sein sollte. Damit fiel der Reichsregierung das Recht zu, ohne Parlament und Gegenzeichnung durch den Reichspräsidenten Gesetze zu erlassen, die – sofern sie nicht Reichstag und Reichsrat betrafen – sogar von der Verfassung abweichen durften.
Eine weitere Woche später wurden – mit Ausnahme Preußens – am 31. März per Gesetz die Parlamente der deutschen Länder sämtlich aufgelöst und gemäß den Ergebnissen der Reichstagswahl neu zusammengesetzt. Damit wurde der politische Gleichschaltungsprozess, der bereits unmittelbar nach dem 5. März mit der Einsetzung von die Interessen des NS-Regimes auch in den Länderregierungen durchsetzenden „Reichskommissaren“, formell beendet.
Das Erreichte sollte nicht nur formal-politisch korrekt erscheinen, sondern sollte auch propagandistisch dauerhaft gesichert werden. Hierzu wurde am 13. März auf Wunsch Hitlers ein Propagandaministerium mit Joseph Goebbels an der Spitze eingerichtet, der dadurch n weitreichenden Einfluss auf Presse, Rundfunk und Film gewann. Gleichzeitig werden die Funkhäuser „gesäubert“ und dabei bis auf zwei sämtliche Intendanten entlassen. Vier Tage später absolvierte der neue Minister seinen ersten öffentlichen Amtsauftritt, als er am 17. März in Berlin die Ausstellung „Die Frau“ eröffnete und dabei über deren künftige Rolle in der deutschen Gesellschaft keinerlei Zweifel ließ. Es müsse künftig deren Hauptaufgabe sein, so führte er bei diesem Anlass aus, sich der Erziehung der Söhne, sprich der künftigen Soldaten zu widmen.
Bei so viel Gleichschaltung, Anpassung und nationaler Feierlichkeit wollte offenbar auch die dem Nationalsozialismus zuvor sehr kritisch begegnende katholische Kirche nicht zurückstehen. Am 28. März hob die Fuldaer Bischofskonferenz die seit August 1932 geltende Warnung vor der NSDAP mit der Begründung auf, Hitler habe betont, künftig die kirchlichen Rechte und die Unverletzbarkeit der katholischen Glaubenslehre achten zu wollen.
Verdrängung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung
Der März begann turbulent und ließ erahnen, was künftig auf die jüdische Bevölkerung zukommen könnte. Am 6. März, also unmittelbar nach der Reichstagswahl, begannen Angriffe von Nationalsozialisten gegen Juden auf dem Berliner Kurfürstendamm, die am 9. März einen ersten blutigen Höhepunkt erlebten. Die Ausschreitungen beschränkten sich jedoch bald nicht mehr nur auf Berlin. Auch im Rheinland und in Magdeburg blockierten SA-Männer am 9. März vereinzelt jüdische Warenhäuser und Geschäfte. In Chemnitz zwangen SA und Stahlhelm jüdische Beamte zum Verlassen des Amtsgerichts; ähnliches geschah in mehreren schlesischen Städten.
Auf jüdischer Seite sah man sich zu einer umgehenden Reaktion gezwungen. Ebenfalls am 9. März veröffentlichte der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV) - die zahlenmäßig und politisch bedeutendste Organisation der deutschen Juden - eine Meldung über ein Gespräch mit Minister Göring, die nicht zuletzt der Beruhigung dienen sollte. Dieser, so hieß es darin, habe zugesagt, dass die Sicherheit des Lebens und des Eigentums der jüdischen Staatsbürger, die sich der Regierung gegenüber loyal verhalten, würden, gewährleistet werde. Offenbar unterstellte Verstrickungen des Centralvereins in kommunistische und staatsfeindliche Bestrebungen gab es laut Göring nicht.
Die bereits am 17. Februar 1933 eingeleiteten Aktionen gegen im Reichsgebiet lebende Ostjuden wurden verschärft. Am 15. März wies das Reichsinnenministerium die Länderregierungen an, deren Zuwanderung abzuwehren und jene Ostjuden, die sich bereits ohne Aufenthaltserlaubnis in Deutschland aufhalten würden, umgehend zu „entfernen“. Außerdem sei unbedingt davon abzusehen, Ostjuden einzubürgern.
Es traf nun aber auch immer stärker jene, die sich in die deutsche Gesellschaft integriert und entsprechend sicher gefühlt hatten. So verfügte etwa am 17. März der der NSDAP angehörende Staatskommissar für Berlin, Lippert, in den städtischen Krankenhäusern für eine schnellstmögliche Entlassung aller jüdischen Ärzte zu sorgen. Einen Tag später ordnete die Berliner Stadtverwaltung an, dass jüdische Anwälte und Notare künftig nicht mehr für die Stadt tätig werden dürften.
Dass das neue Regime die NS-Rassenideologie und damit auch einen damit untrennbar verbundenen radikalen Antisemitismus zu einem zentralen Pfeiler seiner knftigen Politik zu machen gedachte, zeigte sich am 22. März, als im Reichsinnenministeriumein eigenes Referats „Rassenhygiene“ eingerichtet wurde.
Weiteres schweres Ungemach für die jüdische Bevölkerung lag sozusagen „in der Luft“. So notierte Joseph Goebbels am 26. März in sein Tagebuch: „Wir werden gegen die Auslandshetze nur ankommen, wenn wir ihre Urheber oder doch wenigstens Nutznießer, nämlich die in Deutschland lebenden Juden, die bisher unbehelligt blieben, zu packen bekommen. Wir müssen also zu einem groß angelegten Boykott aller jüdischen Geschäfte in Deutschland schreiten. Vielleicht werden sich dann die ausländischen Juden eines Besseren besinnen, wenn es ihren Rassegenossen in Deutschland an den Kragen geht. Pg. Streicher wird zum Leiter der Aktion ernannt. Ich schreibe gleich einen Boykott-Aufruf und gebe eine kurze Erklärung für die Presse heraus, die schon wie ein Wunder wirkt.“
Erste Vorboten waren umgehend zu beobachten. Schon am 27. März unternahmen NS-Anhänger in mehreren Städten Einzelaktionen gegen jüdische Läden und Firmen, die nicht selten zur vorübergehenden Schließung der betroffenen Betriebe führten.
Am Tag darauf erfolgte dann der offizielle und öffentliche Aufruf der Parteileitung der NSDAP zur „Abwehr der Greuel- und Boykottpropaganda“, in dem es hieß: „In jeder Ortsgruppe und Organisationsgliederung der NSDAP sind sofort Aktionskomitees zu bilden zur praktischen, planmäßigen Durchführung des Boykotts jüdischer Geschäfte, jüdischer Waren, jüdischer Ärzte und jüdischer Rechtsanwälte. Die Aktionskomitees sind verantwortlich dafür, daß der Boykott keinen Unschuldigen, umso härter aber die Schuldigen trifft.“ Der Beginn des Boykotts sei „durch Plakatanschlag und durch die Presse, durch Flugblätter usw. bekanntzugeben“. Alles wurde bis ins Detail geplant: „Der Boykott setzt schlagartig Samstag, den 1. April, Punkt 10 Uhr vormittags, ein. Er wird fortgesetzt so lange, bis nicht eine Anordnung der Parteileitung die Aufhebung befiehlt.“
Auf jüdischer Seite versuchte man sich zu wehren, indem die Reichsvertretung der deutschen Juden zusammen mit der Berliner Gemeinde am 29. März mit ihrer ersten öffentliche Erklärung gegen den Boykott-Aufruf der NSDAP öffentlich protestierte und dieses Schreiben auch direkt an Reichskanzler Adolf Hitler richtete. Am gleichen Tag rief der Preußische Landesverband jüdischer Gemeinden gemeinsam mit der jüdischen Gemeinde Berlin im Übrigen die „Zentralstelle für jüdische Wirtschaftshilfe“ ins Leben.