Oktober 1939
Der Oktober stand im Zeichen des Sieges. Nachdem am 3. des Monats damit begonnen worden war, den Großteil der in Polen eingesetzten deutschen Streitkräfte an die Westfront bzw. ins Reich zu verlegen, begann einen Tag später aus Anlass des Sieges eine siebentägige Beflaggung. Während dieser Tage wurden zur Trauerbekundung für die umgekommenen deutschen Soldaten außerdem täglich zwischen 12 und 13 Uhr die Kirchenglocken geläutet.
Am 6. Oktober kapitulierten die letzten polnischen Truppen, womit der Krieg gegen Polen auch offiziell beendet war. Am gleichen Tag zog Adolf Hitler vor dem Reichstag eine erste Bilanz und unterbreitete den Westmächten einen Vorschlag, in dem er nicht nur die vollständige Revision des Versailler Vertrags und die Rückgabe der deutschen Kolonien forderte, sondern auch die Anerkennung sämtlicher deutscher Eroberungen in Polen als Bedingung nannte, wohlwissend, dass ein solches „Friedensangebot“ weder für Frankreich noch für Großbritannien annehmbar war. Die Ablehnung der Westmächte folgte am 10. bzw. 12 Oktober prompt.
Am 7. Oktober wurde Heinrich Himmler, bis dahin bereits Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei, mit den Aufgaben eines Reichskommissars für die „Festigung des deutschen Volkstums“ betraut. Hierzu zählte die Zwangsumsiedlung von polnischen Staatsangehörigen ins – am 12. Oktober dann offiziell als deutsches „Nebenland“ eingerichtete – „Generalgouvernement“, aber auch die Ausschaltung des „schädigenden Einfluss von solchen volksfremden Bevölkerungsteilen, die eine Gefahr für das Reich und die deutsche Volksgemeinschaft bedeuten“ würden. Bevor also von Osten „Volksdeutsche“ in die neuen „Reichsgaue“ Posen und Westpreußen zuziehen konnten, sollte die dort ansässige polnische Bevölkerung von rund 7,8 Millionen Menschen deportiert werden. Ein deutscher Journalist berichtete hierüber am 23. Oktober: „Der Pole begibt sich, soweit er bewegliche Habe mitnehmen kann, auf die Wanderschaft. Ihm wird nichts weiter angegeben, als Ziel: Polen östlich von Warschau. Um nicht unangenehme Bilder hervorzurufen, bewegen sich diese Flüchtlingsströme ausschließlich in der Dunkelheit.“
Mitte des Monats veränderte sich auch der Fokus der NS-Propagandamaschinerie. Ab dem 16. Oktober wurde im Rundfunk nach den Nachrichten nicht mehr der „Marsch der Deutschen in Polen“, sondern „Denn wir fahren gegen Engelland“ gespielt. Und nachdem er am 14. Oktober in Scapa Flow auf den Orkneyinseln das britische Schlachtschiff „Royal Oak“ versenkt hatte, wurde U-Boot-Kapitän Günther Prien zu einer Art Volksheld erhoben und wegen seines Muts und Willens zum Vorbild aufgebaut. Das lag nicht zuletzt auch daran, dass sich im Juni 1919 die deutsche Flotte vor ihrer Auslieferung im Hafen von Scapa Flow selbst versenkt hatte.
Auch in kirchlichen Kreisen wurde der schnelle Sieg in Polen gefeiert. Zum Erntedankfest wurde am 1. Oktober in den evangelischen Kirchen im Reichsgebiet eine wenig christliche, sondern menschenverachtende Kanzelabkündigung mit einem Dank für die „reiche Ernte“ auf den „polnischen Schlachtfeldern“ verlesen.
Auch andere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens standen im Zeichen des Krieges: Ebenfalls am 1. Oktober wurde das erste „Wunschkonzert“ für die Soldaten der Wehrmacht vom deutschen Rundfunk ausgestrahlt. Der Erfolg war so überwältigend – bereits nach einer Woche lagen der Redaktion 30.000 Briefe und ein Zentner Postkarten vor -, dass die Sendung daraufhin jeden Sonntag ausgestrahlt wurde. Am 10. Oktober wurde dann das erste Kriegswinterhilfswerk eröffnet. Damit, so wurde propagiert, könne jeder „Volksgenosse“ durch entsprechende Spendenfreudigkeit den „glänzenden Waffentaten der Wehrmacht nunmehr nicht wenige stolze Opfer der inneren Heimatfront folgen“ lassen.
Aus dieser Heimatfront sollten nach wie vor aber jene „ausgemerzt“ werden, die nicht den kruden rassenideologischen Vorstellungen des NS-Regimes entsprachen. In einer geheimen, auf den 1. September 1939 rückdatierten Weisung ordnete Adolf Hitler daher Ende Oktober unter dem Tarnnamen „T4“ die Durchführung eines Programms zur „Euthanasie“ und damit den organisierten Massenmord an angeblich unheilbar Kranken an. Für diese selbst nach NS-Recht ungesetzliche Tötungsaktion unter dem Deckmantel des Krieges waren im Rahmen einer Besprechung in der Reichskanzlei am 9. Oktober 65.000 bis 70.000 Opfer angegeben worden, für deren Ermordung eigens drei Tarnorganisationen ins Leben gerufen wurden.
Außerdem wurde im Laufe des Monats der Überwachungs- und Verfolgungsapparat im Reichsgebiet ausgebaut und mit immer neuen Befugnissen ausgestattet. Mit Erlass des Reichsführers SS und Chefs der Deutschen Polizei, Heinrich Himmler, vom 27. September wurde zum 1. Oktober das Reichssicherheitshauptamt eingerichtet und dort unter Leitung von Reinhard Heydrich alle sechs zentralen Ämter der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes unter einem Dach zusammengefasst.
Allein in den wenigen Tagen zwischen dem 8. und dem 11. Oktober wurden im Reichsgebiet 173 Menschen wegen „Heimtücke“-Vergehen, weitere 46 Personen wegen angeblicher marxistischer Betätigung festgenommen. Am 16. Oktober richtete Justizminister Franz Gürtner in seinem Haus ein eigenes Referat für die Tätigkeit der Sondergerichte ein. Damit sollte die Arbeit dieser der Abschreckung dienenden Institution vereinheitlicht, insbesondere aber „zu milde“ Urteile verhindert werden.
Wiederum einen Tag später unterstellte der Ministerrat für die Reichsverteidigung Angehörige der SS und der Polizeiverbände „in besonderem Einsatz“ einer eigenen Sondergerichtsbarkeit und entzog sie so einer Verurteilung durch ordentliche Zivil- oder Wehrmachtgerichte. Derart gestärkt und geschützt empfahl Reinhard Heydrich am 20. Oktober in einer Denkschrift über „Die gegenwärtige Haltung der Kirche und der Sekten“ ein rücksichtsloses Durchgreifen der Gestapo gegenüber dem katholischen Klerus überall dort, wo – natürlich nach Einschätzung der Gestapo - Sabotageabsicht, Aufwiegelung oder anderes staatsfeindliches Verhalten erkennbar würden.
Verdrängung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung
Nach all den zahlreichen Detailregelungen der Vergangenheit, die einen ganzen Katalog an gegen die jüdische Bevölkerung gerichteten Verboten und Anweisungen füllten, holte Heinrich Himmler im Oktober zu einem umfassenden Generalschlag aus, um den Maßnahmen unmissverständlichen Nachdruck zu verleihen. Er ordnete an, dass Juden, die einer staatlichen Anweisung nicht nachkämen oder „staatsfeindliches Verhalten“ an den Tag legten, umgehend in Konzentrationslagern zu internieren seien. Damit war der Willkür endgültig Tür und Tor geöffnet und die Jüdinnen und Juden nahezu schutzlos.
Das galt auch hinsichtlich der am 19. Oktober vom Reichsfinanzminister verfügten willkürlichen Anhebung der ein Jahr zuvor am 21. November 1938 festgelegten „Sühneleistung “ von 20 auf 25 Prozent und damit um 250.000.000 RM, die bis zum 15. November 1939 gezahlt werden mussten.
Um das Ausmaß der staatlicherseits mittlerweile verfügten Ausbeutung zu illustrieren, sei hier beispielhaft aufgezeigt, was einem jüdischen Auswanderer blieb, der nach dem Verkauf seiner Firma und Immobilien in der zweiten Oktoberhälfte 1939 das Land verließ. Auf sein Gesamtvermögen musste er erst 25 Prozent Judenvermögensabgabe und anschließend weitere 25 Prozent Reichsfluchtsteuer entrichten. Nach der Auswandererabgabe an die Reichsvereinigung der Juden von 5 Prozent verblieben rund 53 Prozent der Ausgangssumme. Dieser Rest wurde vom Auswanderer-Sperrmarkkonto des Emigranten zum Kurs von lediglich 6 Prozent transferiert, so dass diesem nur noch rund 3 Prozent seines ursprünglichen Vermögens zum Neubeginn im fremden Land blieben.
Am 7. Oktober erklärte Hitler nun auch öffentlich seine Absicht, die „ethnographischen Verhältnisse“ in Europa mit Hilfe von Umsiedlungen neu zu ordnen und dabei auch eine „Regelung des jüdischen Problems“ anzustreben. Zugleich beauftragt er Heinrich Himmler, die neue Ethnopolitik als „Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums“ zu planen und zu koordinieren. Tags zuvor hatte Adolf Eichmann von seinem Vorgesetzten Heinrich Müller den Auftrag erhalten, mit der Gauleitung in Kattowitz Gespräche aufzunehmen, wie 70.000 bis 80.000 Juden aus dem dortigen Bezirk deportiert werden könnten. Hierdurch sollten nicht zuletzt Erfahrungen gesammelt werden, auf deren Grundlage spätere Evakuierungen größeren Ausmaßes durchgeführt werden könnten.
Bereits am 11. Oktober wurden die Pläne geändert: Statt des am 21. September ins Gespräch gebrachten „Judenreservats“ östlich von Krakau war nun ein solches südlich von Lublin vorgesehen. Mit ersten Deportationen dorthin sollte umgehend begonnen und darüber dann ein „Erfahrungsbericht vorgelegt“ werden. Danach galt es abzuwarten, „bis der generelle Abtransport von Juden angeordnet wird“.
Zwischen dem 18. und 27. Oktober wurden dann im Rahmen des „Nisko-Plans“ bereits erste Massendeportationen von etwa 5.000 Juden aus dem Protektorat Böhmen und Mähren sowie aus Österreich in den Raum Lublin durchgeführt. Die meisten der Deportierten wurden unmittelbar nach ihrer Ankunft zur deutsch-sowjetischen Demarkationslinie getrieben und über die „grüne Grenze“ gejagt. Die längerfristig angelegten Pläne zur Errichtung eines „Judenreservats“ in diesem Raum, in dem alle unter der Herrschaft des Dritten Reiches lebenden Juden zusammengepfercht werden sollten wurden dann im März 1940 wieder fallengelassen.
Neben vielen anderen Dingen der Juden- und Gegnerverfolgung änderte sich mit der Einrichtung des Reichssicherheitshauptamtes auch die Form und die Intensität der Lageberichterstattung. Am 9. Oktober wurde mit den „Berichten zur innerpolitischen Lage“ begonnen, die der regelmäßigen kurzfristigen Unterrichtung der Führung des NS-Regimes über die politische Lage im Reich und über die Stimmungslagen in der Bevölkerung dienen sollten. Im Gegensatz zu den früheren Lageberichten des Sicherheitsdienstes gab es aber keinen eigenen Unterpunkt „Juden“ mehr. Die Berichterstattung über die jüdische Bevölkerung beschränkte sich von nun an auf sporadische Informationen unter dem Titel „Gegner“. Am 8. Dezember 1939 wurden die Berichte schließlich in „Meldungen aus dem Reich“ umbenannt.