Das Jahr 1942
1942 wendete sich das Kriegsgeschehen endgültig gegen das NS-Regime und seine Verbündeten. Das Scheitern der von Adolf Hitler auch gegenüber der Sowjetunion verfolgten Strategie des „Blitzkrieges“ wurde bereits Anfang des Jahres offenkundig. Mit der Landung der Alliierten in Nordafrika, dem Beginn der sowjetischen Gegenoffensive bei Stalingrad und den ersten Flächenbombardements deutscher Großstädte zeichnete sich ein grundlegender Wandel dann endgültig ab. Ende 1942 waren dann die Armeen sämtlicher Alliierter auf allen Kriegsschauplätzen auf dem Vormarsch.
1942 war auch das Jahr, in dem die zuvor unvorstellbare Rücksichtslosigkeit, Brutalität und Unmenschlichkeit des NS-Regimes immer deutlicher wurde. Zum Synonym für den Terror der deutschen Eroberer in den besetzten Gebieten wurde der Name eines Bergarbeiterdorfes bei Prag: Lidice. Als Vergeltung für das Attentat auf Reinhard Heydrich ermorden SS-Einheiten am 10. Juni die männlichen Einwohner des Dorfes, verschleppten Frauen und Kinder in Konzentrationslager und machten den Ort dem Erdboden gleich.
Heydrich war als Beauftragter für die „Endlösung“ auch der Organisator der Massenvernichtung der Juden gewesen, die das Jahr wohl zu einem, wenn nicht dem dunkelsten der deutschen Geschichte werden ließen. Am 20. Januar auf der sogenannten Wannsee-Konferenz beschlossen, wurde die in der Geschichte einzig dastehende systematische Vernichtung eines ganzen Volkes ab März in den Vernichtungslagern mit brutaler Konsequenz in die Tat umgesetzt.
An der „Heimatfront“ wurde im Jahresverlauf die Überdehnung der Kraft des Deutschen Reiches immer spürbarer, wozu die zunehmende Luftüberlegenheit der Alliierten einen erheblichen Anteil trug. Das britische Flächenbombardement von Lübeck Ende März und der erste 1000-Bomber-Angriff auf Köln Ende Mai bedeuteten dabei eine neue Phase im Luftkrieg – mit der Zivilbevölkerung als Leidtragender. Am Ende des Jahres beherrschten die Alliierten den europäischen Luftraum.
Zugleich verschlechterte sich die Versorgungslage gravierend, und die Knappheit fast alle Nahrungs- und Genussmittel bestimmte den Alltag. Seit April erhielt der deutsche „Normalverbraucher“ und damit rund 40 Prozent der Bevölkerung, wöchentlich 2.000 g Brot, 206 g Fett und 300 g Fleisch. Bohnenkaffee war äußerst rar und wurde zumeist durch „Muckefuck“, einen aus Zichorien und Malz hergestellten Ersatzkaffee, ersetzt. Weil auch Frischgemüse und Obst nicht in ausreichenden Mengen beschafft werden konnten, war ein erheblicher Vitaminmangel zu verzeichnen. Aufgrund der ausgeprägten Mangelerscheinungen häuften sich 1942 Schwarzschlachtungen und Fälschungen oder Diebstähle von Lebensmittelkarten. Stadtbewohner zogen zu Hamsterfahrten in ländliche Gebiete, um dort Fleisch, Eier, Speck, Kartoffeln und Gemüse gegen Wertgegenstände oder Geld einzutauschen. Da vor den Sondergerichten solche Versuche der „alternativen“ Versorgung als Verbrechen gegen die Kriegswirtschaft galten, wurden sie mit empfindlichen Geldbußen und Haftstrafen bis hin zur Einweisung in Konzentrationslager geahndet. Vereinzelt wurden Lebensmitteldiebstähle auch mit dem Tode bestraft.
Aufgrund einer immer intensiveren Rüstungswirtschaft bei gleichzeitiger Ausdünnung der Belegschaften durch Einberufungen zur Wehrmacht sahen sich Industrie und Landwirtschaft mit einem kontinuierlich eskalierenden Arbeitskräftemangel konfrontiert, dem man unter anderem mit Druck zu Leistungssteigerungen zu begegnen versuchte. Bereits am 19. Januar ordnete Robert Ley als Leiter der Deutschen Arbeitsfront Leistungssteigerung von 10 Prozent an; weitere Maßnahmen sollten im Jahresverlauf folgen. Dennoch – oder wohl eher gerade deshalb - häuften sich nach Beobachtungen des Sicherheitsdienstes der SS in der Industrie Klagen über „Bummelei“ und „Widersetzlichkeit“ gegen Vorgesetzte bis hin zu Sabotageakten an Werkseinrichtungen. Es wurde ein immer zentraleres Problem der Wirtschaft, die personellen Lücken zu schließen. Neben deutschen Frauen und Jugendlichen, die seit dem Frühjahr verstärkt in Rüstungsbetrieben und in der Landwirtschaft eingesetzt wurden, waren es daher vor allem Menschen aus besetzten Gebieten, Kriegsgefangene und seit April 1942 auch Häftlinge aus Konzentrationslagern, die unter größtenteils unmenschlichen Bedingungen in kriegswichtigen Betrieben arbeiten mussten.
Verdrängung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung
Das gesamte Jahr stand unter dem Eindruck der Beschlüsse der Wannsee-Konferenz und deren Umsetzung im Zuge immer neuer Deportationen aus dem Reichsgebiet und im Rahmen der als „Aktion Reinhardt“ bezeichneten Mordaktionen in den Vernichtungslagern Belzec, Sobibor und Treblinka.
Am 20. Januar fand in einer als Gästehaus des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD dienenden Berliner Villa jenes Treffen statt, das als Wannsee-Konferenz traurige Berühmtheit erlangen sollte. Hochrangige Vertreter von SS, Sicherheitsdienst, Gestapo und aus verschiedenen Ministerien legten dabei Richtlinien fest, anhand derer die gegen Ende 1941 beschlossene „Endlösung der Judenfrage“ in die bis dahin völlig unvorstellbare Tat umgesetzt werden sollte. Allen Beteiligten war dabei klar, dass es dabei um millionenfachen Mord gehen würde, der mit dem harmlos erscheinenden Begriff der „Evakuierung“ umschrieben wurde.
Hierbei kam der „Aktion Reinhardt“ eine große Bedeutung zu, die als technokratische und harmlos erscheinende Umschreibung für die Ermordung der gesamten jüdischen Bevölkerung im „Generalgouvernement“ diente. Im März setzten erste „Räumungen“ jüdischer Gettos im von der Wehrmacht besetzten Polen eingesetzt hatten, deren jüdische Bewohner zunächst in Bełzec, ab Anfang Mai 1942 in Sobibór und in der zweiten Julihälfte schließlich auch in Treblinka ermordet wurden. In das letztgenannte Vernichtungslager wurden die Menschen aus dem Warschauer Gettos deportiert, um dort sofort in den Gaskammern umgebracht zu werden. Bis in den Herbst 1943 hinein sollten allein diesen frei Vernichtungslagern der „Aktion Reinhardt“ zwischen 1,6 und 1,8 Millionen Menschen ermordet werden.
Aber auch im besetzten Westeuropa begannen 1942 die Transporte in die Vernichtungslager im Osten. Der erste derartige Deportationszug verließ am 27. März 1942 mit über 1.000 Jüdinnen und Juden das Lager Compiègne bei Paris in Richtung Auschwitz. Nachdem Heinrich Himmler den dortigen Lagerkomplex am 19. Juli 1942 besucht hatte, ordnete er an, dass es zum Jahresende keine jüdische Bevölkerung mehr im Generalgouvernement geben solle. In nur wenigen Monaten fielen daraufhin zwischen Juli und November 1942 weit über zwei Millionen Menschen dem systematischen Völkermord zum Opfer. Auch im Reichskommissariat Ukraine waren bis Ende 1942 nahezu sämtliche Jüdinnen und Juden vernichtet worden, während im Generalkommissariat Weißruthenien zunächst noch jene von der Ermordung ausgelassen wurden, die seitens der deutschen Besatzer als als Arbeitskräfte gebraucht wurden. Insgesamt wurden aber auch hier im Jahr 1942 etwa 115.000 Juden ermordet, die Hälfte von ihnen zwischen Mai und August.
Die Lage jener Jüdinnen und Juden, die zunächst noch im Reichsgebiet zurückblieben, wurde zunehmend aussichtsloser und verzweifelter. Das rührte auch daher, dass sie von jenen Familienangehörigen, Nachbarn und Freunden, die deportiert worden waren, zumeist keine Lebenszeichen mehr erhielten. Waren im Rahmen der ersten Transporte im Herbst 1941 noch relativ häufig Nachrichten aus Litzmannstadt eingetroffen, so blieben sie aus Minsk, Kowno und Riga dann fast völlig aus. Da auch den Stellen der Reichsvereinigung der Juden nahezu alle Kontaktversuche verboten wurden, waren mit der Deportation nahezu alle Kontakte abgebrochen. So begann bereits das Jahr 1942 mit der zunehmenden Gewissheit, dass die „Evakuierung“ einem Todesurteil gleichkam.
Daraus zogen immer mehr der Betroffenen ihre Konsequenzen, bevor sie überhaupt auf den Weg „in den Osten“ geschickt wurden. Eine zunehmende Zahl der Verzweifelten griffen zum Mittel des Suizids, wobei der Höhepunkt der so motivierten Selbstmorde unter der jüdischen Bevölkerung schon 1942 erreicht wurde. Allein in Berlin zählte man in diesem Jahr über 800 Tote, deren Gesamtzahl auch in den Jahren bis zum Kriegsende kontinuierlich weiter zunahm.
Zugleich trat eine weitere Gruppe immer stärker und für sie bedrohlicher in den Fokus des NS-Regimes. Die Lage der jüdischen „Mischehen“ und der als „Mischlinge I. Grades“ verunglimpften Abkömmlinge blieb nicht nur weiterhin völlig unsicher, sondern verschlechterte sich 1942 im alltäglichen Leben deutlich. Akute Gefahr bestand für die Betroffenen dieser Gruppen vor allem dann, wenn sie - oftmals aus völlig nichtigen Gründen - die Aufmerksamkeit der Gestapo erregten oder gegen eine der immer zahlreicheren diskriminierenden Bestimmungen des Alltags verstießen. Die wurden nahezu immer gegen sie ausgelegt und bedeuteten im schlimmsten und immer häufiger werdenden Fall Haft oder Konzentrationslager.
Ob im Deutschen Reich oder im besetzten Polen: das alles fand durchaus nicht unter großer Geheimhaltung und ohne jede Öffentlichkeit statt. So berichtete etwa die BBC in ihren Rundfunksendungen - auch nach Deutschland - seit 1942 über den stattfindenden Massenmord. Die „Endlösung“ wurde so in hohem Tempo „zum öffentlichen bzw. offenen Geheimnis“.