Mai 1941
Am Morgen des 20. Mai begannen deutsche Luftlandeeinheiten mit dem Angriff auf die von Briten und Griechen gehaltene Insel Kreta. Nach zwölftägigen schweren und verlustreichen Kämpfen gab das Oberkommando der Wehrmacht am 1. Juni die Eroberung der Insel bekannt.
Am 24. Mai versenkten das deutsche Schlachtschiff „Bismarck“ und der Schwere Kreuzer „Prinz Eugen“ südwestlich von Island den britischen Schlachtkreuzer „Hood“ – ein Ereignis, dass in der deutschen Bevölkerung großen Jubel auslöste. Die britische Marine nahm in diesem Prestigekampf die Verfolgung der „Bismarck“ auf und versenkte sie – nunmehr naturgemäß zum Entsetzen der die Entwicklung gebannt beobachtenden deutschen Öffentlichkeit mit fast 2.000 Mann Besatzung am 27. Mai 400 Seemeilen westlich von Brest.
Die deutschen Luftangriffe auf Ziele in Großbritannien erlebten im Verlauf des Monats einen letzten Höhepunkt. In der Nacht zum 1. Mai und den fünf folgenden Nächten flog die deutsche Luftwaffe Bombenangriffe auf den Hafen Liverpool-Birkenhead. Am 10. Mai erfolgte dann mit 507 Flugzeugen - für drei Jahre - der letzte große Angriff auf London, weil der Großteil der deutschen Luftwaffe anschließend in den Osten verlegt wurde. Nach britischen Angaben kamen allein bei diesem Angriff mehr als 3.000 Menschen ums Leben. Die britische Luftwaffe ihrerseits griff am 8. Mai mit 359 Bombern – den bis dahin zahlenmäßig größten Aktionen - Ziele im Deutschen Reich an, darunter die Städte Hamburg und Bremen. Am 30. Mai ordnete das Reichsluftfahrtministerium eine erneute Entrümpelung und Überprüfung sämtlicher Dachböden an, um zu verhindern, dass dort lagernde Gegenstände bei Luftangriffen entflammt und Brände verursachen konnten.
Der „Tag der nationalen Arbeit“ wurde am 1. Mai nach offiziellen Beobachtungen „in aller Stille“ begangen. Die Bevölkerung habe dankbar registriert, dass der Tag ohne die sonst üblichen Aufmärsche und Versammlungen tatsächlich der Ruhe und Erholung gewidmet gewesen sei. DAF-Leiter Robert Ley betonte bei dieser Gelegenheit, nicht nur im „Glauben“, sondern auch in der Arbeit jedes Einzelnen liege „eine der Voraussetzungen für unseren Sieg“. Das der sicher war, betonte am 4. Mai Adolf Hitler, als er zum Abschluss des Balkan-Feldzuges vor dem Reichstag eine Siegesrede hielt, in der er die deutsche Überlegenheit zur Schau stellte: „Das Deutsche Reich und seine Verbündeten stellen militärisch, wirtschaftlich und vor allem moralisch eine Macht dar, die jeder denkbaren Koalition der Welt überlegen ist.“
Derweil brodelte die Gerüchteküche. Der Sicherheitsdienst der SS berichtete am 8. Mai über eine stetige Zunahme von Spekulationen über einen deutschen Angriff auf die Sowjetunion. „Seit den letzten drei Monaten ist nach den hier vorliegenden Meldungen aus dem gesamten Reichsgebiet ein stetes Anwachsen der in der Bevölkerung umlaufenden Russlandgerüchte zu beobachten.“ Die Deutschen hielten einen solchen Krieg mittlerweile nicht nur „für absolut möglich“, sondern häufig sogar für „wahrscheinlich“. Die Gerüchte, die durch das Schweigen von offizieller Seite noch geschürt würden, seien – so zumindest die Beobachtungen des Sicherheitsdienstes - nach den jüngsten Kriegserfolgen zumeist von „mutiger Zuversicht“ geprägt.
Dann geschah allerdings etwas, was die Öffentlichkeit stark irritierte: Am 10. Mai flog Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß als Pilot eines kleinen Flugzeugs allein mit der Absicht nach Großbritannien, mit britischen Regierungsvertretern ein Friedensabkommen zu schließen, um dem Reich so den Rücken für den beabsichtigten Angriff auf die UdSSR freizuhalten. Unmittelbar nach seiner Landung in Schottland wurde Heß gefangengesetzt. In Deutschland wurde er zwei Tage später aller seiner Ämter enthoben und parteiamtlich bekanntgegeben, dass er das „Opfer von Wahnvorstellungen“ und die Führung der NSDAP nicht über sein Vorhaben informiert gewesen sei. Der deutschen Presse wurde am 14. Mai untersagt weiter über den „Fall Heß“ zu berichten.
Wie stark das Kriegsgeschehen die Gesellschaft verändert und Familien auseinandergerissen hatte, wurde am Muttertag deutlich, der am 18. Mai gefeiert wurde. Überall im Reichsgebiet fanden bezeichnender Weise Ehrungen für berufstätige Mutter statt, und im Rundfunk wurde eine Sendung ausgestrahlt, in der Frontsoldaten und kinderlandverschickte Kinder mit ihren Müttern sprechen konnten. Am 19. Mai besuchte Reichsjugendführer Artur Axmann in propagandistischer Absicht ein Lager der Kinderlandverschickung in der Slowakei. Die NS-Presse betonte bei dieser Gelegenheit erneut die gute Unterbringung, Betreuung und Versorgung der Kinder.
Allerdings stimmten Propaganda und Realität auch mit Blick auf das Verhalten der Frauen keineswegs überein. Trotz des von Hitler in einer Reichstagsrede am 4. Mai an alle Frauen gerichteten Aufrufs, sich zur freiwilligen Übernahme eines Arbeitsplatzes bereitzuerklären, hatte sich beispielsweise in Leipzig nach einer Woche erst eine Frau beim Arbeitsamt gemeldet. Aber auch in anderen Städten des Deutschen Reiches stieß der Führeraufruf nur auf wenig Resonanz.
Am 23. Mai wurde das Programmschema des deutschen Rundfunks geändert. In der Zeit zwischen 20.15 und 22.00 Uhr wurden künftig drei Programmen ausgestrahlt: neben dem bisherigen Reichsprogramm ein Unterhaltungs- und Tanzmusikprogramm sowie ein Orchester- und Opernprogramm. Damit wurde dem Bedürfnis der Hörer nach mehr Unterhaltung im Kriegsalltag entsprochen. Zu deren Leidwesen wurde aber zwei Tage später zum 75., zugleich aber auch letzten Mal das sehr beliebte „Wunschkonzert für die Wehrmacht“ gesendet, das seit dem 1. Oktober 1939 zunächst zweimal wöchentlich, später jeden Sonntag auf dem Programm gestanden hatte.
Verdrängung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung
Im Mai lebten nach Angaben der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland im „Altreich“ noch 168.972 jüdische Menschen. Zugleich erreichte die zunehmende Gettoisierung der jüdischen Bevölkerung nunmehr auch die deutschen Großstädte. Wenn auch nicht mit dem Ausmaß und der brutalen Konsequenz der entsprechenden Maßnahmen im besetzten Polen vergleichbar, so bedeutete die vom Reichssicherheitshauptamt und den örtlichen Gestapostellen verfügte zwangsweise Zusammenlegung von Jüdinnen und Juden in „jüdischen Häusern“ nichts anderes, als eine endgültige Gettoisierung auch der jüdischen Bevölkerung im Reichsgebiet. Das verdeutlichten Zusatzbestimmungen, wie sie etwa in Köln umgesetzt wurden. Hier waren das gesamte rechtsrheinische Gebiet und die stark bürgerlich geprägten linksrheinischen Stadtteile „von den Juden restlos zu räumen“. Diese Maßnahme verschärfte die ohnehin bereits bedrückende Wohnungsnot der jüdischen Bevölkerung weiter und schuf noch weitaus unerträglichere Wohn- und Lebensbedingungen in massiv überfüllten Wohnungen.
Verschärft wurde die Lage noch durch weitere Einschränkungen. So wurde Jüdinnen und Juden seitens des Reichswirtschaftsministeriums am 22. Mai Kauf und Verkauf von Schmuck und Kunstgegenständen im Wert von über 1.000 RM verboten. Am 30. Mai übernahm und präzisierte das Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft dann die im Vormonat vom Reichsfinanzministerium unterbreiten Vorschläge und ordnete an, an Jüdinnen und Juden gerichtete Lebensmittelgeschenksendungen aus dem Ausland bis zu 5 kg zur Hälfte auf die Lebensmittelrationen des Empfängers anzurechnen; darüber hinausgehende Mengen sollten voll angerechnet werden.
Am 13. Mai verschaffte Wilhelm Keitel als Chef des Oberkommandos der Wehrmacht mit dem sogenannten Kriegsgerichtsbarkeitserlass allen Offizieren und Soldaten der Wehrmacht weitgehende Handlungsfreiheit und lieferte ihnen die Bevölkerung neu eroberter Gebiete nahezu schutzlos aus. Künftig mussten sich Angehörige der Wehrmacht nach Übergriff gegen Zivilisten nämlich vor keinem Militärgericht mehr verantworten. Am 19. Mai befahl Keitel zudem ein „rücksichtsloses und energisches Durchgreifen gegen bolschewistische Hetzer, Freischärler, Saboteure, Juden“.