Juli 1939
Man schwankte auch im Juli 1939 weiterhin zwischen Hoffen und Bangen. Im „Völkischen Beobachter“ polemisierte Propagandaminister Goebbels am 14. Juli gegen die zu Frieden und Verständigung aufrufenden Briefe des britischen Publizisten Stephen King-Hall. Dabei stellte er die Dokumente kurzerhand als „Machwerk aus der Propagandawerkstatt Downing Street“ dar und wies Großbritannien prophylaktisch schon einmal die Schuld an einem drohenden Krieg zu. Beleidigend fuhr er an King-Hall gerichtet fort: „Wenn Dummheit weh täte, dann müsste Ihr Geschrei durch das ganze englische Weltreich zu vernehmen sein.“ Mit solchen „Mätzchen“ wie den Briefen könne man das deutsche Volk nicht mehr „benebeln“.
In Moskau wurde am 24. Juli hingegen eine britisch-französisch-sowjetische Übereinkunft für einen Beistandspakt getroffen, in dem sich die drei Staaten des gegenseitigen Beistands in Fällen direkter oder indirekter Aggression versicherten. Damit schien die nach der Zerschlagung der Tschechoslowakei vom Westen abgestrebte Abwehrfront gegen weitere deutsche Expansionsbestrebungen doch noch realisiert werden zu können. Ein Inkrafttreten des Paktes war allerdings erst nach Abschluss eines zusätzlichen Militärabkommens vorgesehen. Auch der als Hoher Kommissar des Völkerbundes für Danzig eingesetzte Carl Jacob Burckhardt verbreitete Hoffnung, als er am 30. Juli in einem Gespräch mit der Nachrichtenagentur Reuter erklärte, die zusehends eskalierenden Konflikte um die Stadt müssten nicht zwangsläufig zum Krieg führen. Auch auf deutscher Seite vermied man – noch – die totale Eskalation. Laut Presseanweisung des Propagandaministeriums vom 26. Juli waren „Meldungen über die Zwischenfälle in Polen“ zwar weiterhin „gut herauszubringen“, allerdings „nur zweite Seite und ohne jede Aufmachung“.
Viele dachten zu dieser Jahreszeit eher an Urlaub, was auch durch den Rechenschaftsbericht der NS-Gemeinschaft „Kraft durch Freude“ unterstützt wurde, den KdF-Leiter Lafferentz am 21. Juli in Hamburg im Rahmen der Reichstagung präsentierte. Darin hieß es unter anderem, dass für das laufende Jahr mit der neuen Rekordmarke von mehr als zehn Millionen KdF-Urlaubern zu rechnen sei. Auch politisch war Sommerpause, denn am 3. Juli hatte die Reichspropagandaleitung der NSDAP für Juli und August eine weitgehende Versammlungsruhe von Parteigliederungen und angeschlossenen Verbänden verfügt.
Am 19. Juli wurde mit erheblichem propagandistischem Aufwand das „Neubauerndorf“ Wittstock eingeweiht und dabei die Wichtigkeit einer Neubildung des deutschen Bauerntums betont. Solche propagandistischen Wendungen konnten aber kaum darüber hinwegzutäuschen, das zu diesem Zeitpunkt rund 88 Prozent der deutschen Bauernhöfe Kleinbetriebe unter 20 Hektar Größe darstellten.
Die Urlaubs- und Feierstimmung erfuhr durch regimeseitige Äußerungen und Maßnahmen allerdings auch einige Eintrübungen. So kritisierten Reichsmusik- und Reichstheaterkammer am 3. Juli angebliche „Entartungen im Tanzwesen“, wobei das Singen von ausländischen Texten bei der Intonierung von Musikstücken als besonders anstößig galt. Zehn Tage später startete Reichsgesundheitsführer Leonardo Conti eine reichsweite Kampagne gegen Tabak- und Alkoholkonsum.
Verdrängung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung
Der Monat brachte mit der am 4. Juli veröffentlichten „10. Verordnung zum Reichsbürgergesetz“ gravierende Änderungen hinsichtlich der verbliebenen Reste jüdischer Selbstverwaltung. Damit wurde die im Februar 1939 von der Reichsvertretung der Juden in Deutschland als ihre Nachfolgeorganisation gegründete Reichsvereinigung offiziell anerkannt und ihr gesetzlicher Status genau definiert. Zu ihren Arbeitsbereichen zählten demnach die Auswanderung, das Schulwesen und die jüdische Wohlfahrtspflege
Hinsichtlich der Mitgliedschaft änderte sich Entscheidendes: Während der Reichsvertretung und auch der Reichsvereinigung nur sogenannte „Glaubensjuden“ angehört hatten, bestimmte die neue Verordnung, dass der Reichsvereinigung nunmehr alle nach den „Nürnberger Gesetzen“ als Juden definierte Personen – also auch Konvertiten und Konfessionslose - anzugehören hatten, während in Mischehen lebende „arische“ Ehepartner freiwillige über ihre Mitgliedschaft entscheiden konnten. Was sich unspektakulär anhörte hatte fundamentale Folgen: Das Führerprinzip galt nun auch in der jüdischen Selbstverwaltung, die auf einer Zwangsmitgliedschaft beruhte. Das Vermögen der einzelnen jüdischen Gemeinden und Gruppierungen wurde nun der Reichsvereinigung übereignet.
Die folgenreichste und somit bedeutendste Änderung bestand allerdings darin, dass die Reichsvereinigung – anders als zuvor – ab sofort unter der direkten Aufsicht des Reichsministerinnenministeriums stand, eine Aufgabe, die in der Praxis jedoch vom „Judenreferat“ des Sicherheitsdienstes unter Adolf Eichmann – und damit ab September 1939 vom Reichssicherheitshauptamt – ausgeübt wurde. Als am 11. Juli die offizielle Erklärung der Reichsvereinigung zu dieser Verordnung im „Jüdischen Nachrichtenblatt“ veröffentlicht und ausführlich kommentiert wurde, fand gerade diese radikalste Änderung im Status der Reichsvereinigung mit keinem Wort Erwähnung.
Tatsächlich glaubten – oder hofften – führende Vertreter der Reichsvereinigung trotz aller grundlegenden Einschränkungen wohl noch immer darauf, dass sie durch die neuen Zuständigkeiten und Kontrollmechanismen mehr Informationen erhalten und in Entscheidungen miteinbezogen würden und so im Sinne des verbliebenen Rests der jüdischen Gemeinschaft wirken könnten, wobei die „forcierte Auswanderung“ eindeutig im Mittelpunkt der Arbeit stand.