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Chronik und Quellen
1935

Das Jahr 1935

1935 zeigten die seitens des NS-Regimes seit 1933 ergriffenen Maßnahmen unübersehbare politische Wirkungen. Die politische Opposition innerhalb und außerhalb der NS-Organisationen war weitgehend ausgeschaltet, so dass nunmehr eine Phase der Konsolidierung der NS-Herrschaft beginnen konnte. Das schlug sich auch darin nieder, dass am 13. Januar das Saarland nach einer Volksabstimmung wieder ins Deutsche Reich integriert wurde - Hitlers erster großer außenpolitischen Erfolg, dem er am 16. März gleich die Einführung der Wehrpflicht folgen ließ.

Insbesondere die relativ günstige wirtschaftliche Entwicklung steigerte das Ansehen des NS-Regimes in der deutschen Bevölkerung stetig weiter, wobei besonders positiv ins Gewicht fiel, dass die Arbeitslosigkeit im internationalen Vergleich in den vergangenen drei Jahren von 29,9 Prozent im Jahr 1932 auf nur noch 10,3 Prozent im Jahr 1935 ungewöhnlich stark gesunken war. Damit schien Hitler mit seiner 1933 geäußerten Prognose recht zu behalten. Innerhalb von vier Jahren, so hatte er versprochen, müsse die Arbeitslosigkeit endgültig überwunden sein.

Der Rückgang der Arbeitslosigkeit im Deutschen Reich war vor allem auf drei Faktoren zurückführen: Eine deutliche Zunahme öffentlicher Aufträge im Zuge der Aufrüstung, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sowie die Verdrängung bestimmter Personengruppen aus dem Arbeitsmarkt. Auf allen drei Gebieten brachte das Jahr 1935 wichtige Entwicklungen: Die Wiedereinführung der Wehrpflicht und der offizielle Aufbau einer deutschen Luftwaffe markierten formal den Beginn der massiven Aufrüstungsbemühungen. Allein in diesem Jahr investierte das NS-Regime mehr als fünf Milliarden Reichsmark in die Rüstung – und damit weit mehr, als alle übrigen öffentlichen Investitionen betrugen. Nachdem 1933 lediglich 6,9 Prozent des Gesamthaushalts für Rüstungszwecke ausgegeben worden waren, belief sich der Anteil zwei Jahre später bereits auf ein Drittel des Etats, wobei diese Verlagerung zu Lasten öffentlicher Investitionen - etwa im Wohnungsbau - gingen. Zudem reduzierte die Wiedereinführung der Wehrpflicht mit einer Armee von 500.000 Mann die Zahl der Arbeitslosen erheblich. Dabei störte es offenbar wenig, dass der Aufbau von Wehrmacht, Luftwaffe und U-Boot-Flotte eklatant gegen den Friedensvertrag von Versailles verstieß, der jede einzelne dieser Maßnahmen explizit untersagte. Außer Protestnoten gab es seitens der damaligen Sieger aber kaum Aktivitäten; im Gegenteil legitimierte Großbritannien durch ein mit dem Deutschen Reich geschlossenes Flottenabkommen den offensichtlichen Rechtsverstoß.

Unter den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen des Jahres 1935 ragte das Projekt „Reichsautobahn“ heraus, das nicht nur aus beschäftigungspolitischen, sondern auch aus militärstrategischen Gründen begonnen wurde und das öffentliche Ansehen des NS-Regimes erheblich verbesserte. Für den Autobahnbau wurden allein 1935 rund 700 Millionen Reichsmark aufgewandt, wodurch rund 90.000 Menschen mit Tiefbauarbeiten beschäftigt werden konnten.

Auch der ab 1935 nicht mehr freiwillige, sondern obligatorische Reichsarbeitsdienst (RAD) sorgte dafür, dass für eine gewisse Zeit Hunderttausende junger Männer vom Arbeitsmarkt ferngehalten wurden. Ein ähnlicher Effekt wurde dadurch erzielt, dass Frauen im NS-Staat nahezu ausschließlich auf eine Mutterrolle festgelegt wurden. Jene, die versuchten, als „Doppelverdiener“ das Familieneinkommen aufzubessern, sahen zu zunehmend staatlichen Drangsalierungen ausgesetzt. Außerdem wurden nun überaus günstige „Ehestandsdarlehen“ angeboten, wenn sich Frauen verpflichteten, nach ihrer Heirat nicht mehr zu arbeiten.

Trotz guter Konjunktur und Belebung der Produktion bewegten sich die Löhne im Reichsgebiet im Jahr 1935 jedoch lediglich auf dem Niveau von 1932, als die Weltwirtschaftskrise ihren Höhepunkt erreicht hatte – und damit sehr deutlich unter dem Niveau des Vorkrisenjahres 1928.

Dennoch schien es allerorten aufwärts zu gehen. Sowohl die Automobilproduktion als auch die Neuzulassungen verzeichneten 1935 einen kräftigen Aufschwung. So wurden im Vergleich mit 1931 mehr als viermal so viele Pkws zugelassen, wobei Opel den deutschen Markt mit einem Anteil von nahezu 43 Prozent klar beherrschte. Das rapide Wachstum der Autoindustrie resultierte dabei nicht zuletzt aus einer gezielten Förderung durch die NS-Regierung, die bereits 1933 die Steuerfreiheit für Neuwagen eingeführt hatte.

In gegenläufigem Trend zur allgemeinen wirtschaftlichen Erholung stand die Versorgung der deutschen Bevölkerung mit Lebensmitteln, die immer wieder drastische Engpässe aufwies. Insbesondere Butter, Schmalz, Eier und Fleisch waren kaum und dann nur zu hohen Preisen zu bekommen. Um Devisen für Rüstungszwecke einzusparen, verfügt die Reichsregierung zudem Importkürzungen bei Konsumgütern und besonders stark bei Nahrungsmitteln. So wurden in den ersten acht Monaten des Jahres 1935 nur noch 2.220 statt - wie im gleichen Zeitraum des Vorjahres – 34.062 Schweine ins Reichsgebiet eingeführt. Der Import von frischem Schweinefleisch sank entsprechend von 58.001 auf 8.400 Tiere. Außerdem war das NS-Regime bemüht, den Verbrauch insgesamt von in geringem Maße vorhandenen, relativ hochwertigen Lebensmitteln auf weitaus reichlicher verfügbare eher minderwertige Nahrung umzustellen. Gleichzeitig wurden Herstellung und Verbrauch einheimischer Produkte – beispielsweise von Kartoffeln - gegenüber Importgütern massiv gefördert und beworben.

Trotz eines durchschnittlichen Jahresurlaubs von nur sechs bis zwölf Tagen gewannen 1935 auch Urlaub und Reisen im NS-Staat zunehmend an Bedeutung. Reisen wurde nun nicht mehr nur als Luxus, sondern als „nationale Pflicht“ verstanden, da es dazu beitrug, das Arbeitsleben effektiver zu gestalten. Insbesondere die NS-Freizeitorganisation „Kraft durch Freude“ (KdF) diente der Umsetzung dieses Anspruches, der natürlich zugleich auch dazu dienen sollte, die Arbeiterschaft von den Segnungen des Nationalsozialismus zu überzeugen. Die Arbeitern nunmehr gebotene Möglichkeit, an zuvor unerschwinglichen Kreuzfahrten und Reisen nach Madeira oder New York teilzunehmen, stützte das Bild vom volksnahen und sozialen NS-Staat. Dabei waren Auslandskontakte durchaus noch erwünscht.

Solche Angebote galten jedoch nicht für alle. Dabei wurde insbesondere ein Ereignis in seiner weitreichenden Bedeutung verkannt und unterschätzt, das weitreichende Folgen für die im Deutschen Reich lebenden Juden haben sollte. Im September 1935 wurden mit dem „Reichsbürgergesetz“ und dem „Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ die sogenannten „Nürnberger Gesetze“ verabschiedet, die Antisemitismus und Judenverfolgung auf eine (pseudo-) gesetzliche Grundlage stellten und Juden zu Bürgern zweiter Klasse degradierten. Nun waren einer systematischen Diskriminierung endgültig Tür und Tor geöffnet. Im Vorfeld der Olympischen Spiele wurden daraufhin zwar Boykottdrohungen laut, letztlich verliefen all diese Initiativen jedoch folgenlos im Sande.

 

Verdrängung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung

Das Jahr begann mit einer seitens des NS-Regimes zentral gesteuerten Propagandaaktion gegen die jüdische Bevölkerung, die von Gewaltakten gefolgt wurde, an denen sich neben SA und SS zunehmend auch die Hitlerjugend beteiligte. Dieser Prozess mündete schließlich in eine Boykottmaßnahmen begleitete antisemitische Welle. Parallel dazu diffamierte die gelenkte NS-Presse Jüdinnen und Juden als „Rasseschänder“ und „Verbrecher“.

Die Gestapo versuchte seit Mitte 1935, die jüdische Bevölkerung auf der Basis von Mitgliederlisten ihrer Organisationen zunehmend auch individuell zu erfassen. Die örtlichen Dienststellen kontrollierten die lokalen jüdischen Organisationen, verfolgten einzelne Jüdinnen und Juden wegen der Verletzung antijüdischer Bestimmungen, wegen Devisenvergehen und - nach September des Jahres - auch wegen sogenannter „Rassenschande“. Das alles geschah in breitem Maße auf der Grundlage von Denunziationen.

Auf eine völlig neue gesetzliche Grundlage wurde das jüdische Dasein und der jüdische Alltag im Reichsgebiet durch ein im Rahmen des Reichsparteitages am 15. September in einer Sondersitzung des Reichstags akklamatorisch beschlossen Gesetzespaket, das aus zwei Teilen bestand: dem „Reichsbürgergesetz“ und dem „Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“, dem sogenannten „Blutschutzgesetz“. Durch das „Reichsbürgersetz“ wurde die Bevölkerung in „Staatsangehörige“ und „Reichsbürger“ mit vollen politischen Rechten aufgeteilt. Der Status von Letztgenannten wurde ausschließlich „Ariern“ zugestanden, wodurch alle deutschen Juden zu Bürgern zweiter Klasse degradiert wurden. Das zeitgleich verkündete „Blutschutzgesetz“ verbot Eheschließungen sowie jeglichen sexuellen Verkehr „zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes“. Verstöße gegen die beiden nach ihrem Verkündungsort als „Nürnberger Gesetze“ bekanntgewordenen neuen Verordnungen wurden unnachgiebig mit Zuchthausstrafen oder der gefürchteten, weil weitgehend willkürlich seitens der Gestapo verhängten „Schutzhaft“ geahndet. In der deutschen Bevölkerung wurde die verschärfte Rassengesetzgebung, die die bisherige Judendiskriminierung legalisierte und deren Ausweitung ermöglichte, überwiegend positiv aufgenommen. Ein letztlich nie genau definierter Spielraum wurde aus pragmatischen Gründen „Mischlingen“ und „Mischehen“ gewährt, um so die nichtjüdische Verwandtschaft ruhig zu halten. Dadurch wandelte sich die ursprünglich familiär Kontaktsphäre zwischen nichtjüdischen und jüdischen Deutschen in eine undurchsichtige, von angst- und rücksichtsvollem Schweigen geprägte Zone der Trennung und des Misstrauens, durch die und hinter der die „Volljuden“ erst recht isoliert waren.

Da die städtischen Fürsorgeämter spätestens nach Erlass der „Nürnberger Gesetze“ jüdischen Armen staatliche Sozialleistungen kürzten oder in Gänze strichen, mussten jüdische Wohlfahrtsstellen an ihrer Stelle helfend eingreifen. Im Oktober wurden bedürftige Juden vom „Winterhilfswerk des deutschen Volkes“ völlig ausgeschlossen, so dass sich die jüdischen Gemeinden gezwungen sahen, binnen weniger Wochen eine aus eigenen Spendeneinnahmen gespeiste Winterhilfeorganisation aufzubauen.

Angesichts der dramatisch veränderten Lage begannen jüdische Zeitungen - insbesondere die jeweiligen Gemeindeblätter - mit einer ausführlichen Berichterstattung über Reise-und Aufnahmebedingungen in verschiedenen potenziellen Aufnahmeländern, ebenso über die Möglichkeiten zum Erlernen von Berufen und Sprachen oder zum Ablegen zusätzlicher Examina, die für die Emigration hilfreich sein konnten. Da in Palästina, aber auch in den Ländern Lateinamerikas, Bauern und Handwerker als Einwanderer bevorzugt aufgenommen wurden, intensivierten insbesondere zionistische Organisationen eine bereits in den Zwanzigerjahren entwickelte Strategie der Berufsausbildung auf landwirtschaftlichen Gütern und in Handwerkskursen. Bereits 1936 bestanden schon rund 30 derartige von Zionisten betriebene Ausbildungsstätten in Deutschland. Die durch solche Kurse vorbereiteten jungen Leute erhielten bevorzugt Einwanderungszertifikate für Palästina.

Dennoch sank die Zahl jüdischer Emigranten 1935 von 23.000 auf 21 000, unter denen zudem eine stärkere Orientierung nicht nur auf Europa und Palästina, sondern immer stärker in Richtung Südafrika, USA und Lateinamerika auszumachen war.

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