Verdrängung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung
Am 1. September werden sich viele Jüdinnen und Juden an die Rede erinnert haben, die Adolf Hitler am 30. Januar 1939 gehalten und in der er dem europäischen Judentum im Kriegsfall dessen Auslöschung angedroht hatte. Nun war der befürchtete Kriegszustand also eingetreten, dem noch am gleichen Tag die zeitweise Verbannung der jüdischen Bevölkerung aus der deutschen Öffentlichkeit nach sich zog, indem die lokalen Polizeistellen eine Ausgangssperre verhängten. Juden durften sich ab sofort in den Wintermonaten nicht mehr nach 20.00 Uhr und im Sommer nicht nach 21.00 Uhr auf der Straße aufhalten. Diese Anordnung wurde von Reinhard Heydrich dann am 9. September reichsweit per Erlass geregelt.
Kurz zuvor hatte Heydrich am 7. September bereits die Behandlung der noch in Deutschland verbliebenen Juden polnischer Staatsangehörigkeit per Erlass geregelt. Demnach sollten alle Männer als „feindliche Ausländer“ festgenommen werden, während die übrigen Familienmitglieder ihren Wohnort ohne Zustimmung der Gestapo nicht mehr verlassen durften. Die Zahl der Verhafteten belief sich auf 2.000 bis 3.000. Ihr gesamtes Vermögen wurde „sichergestellt“ und die meisten der Männer in Konzentrationslagern interniert. Die Reichsvereinigung führte wegen deren Freilassung in den folgenden Monaten lange Verhandlungen mit dem Reichssicherheitshauptamt.
Die Einschränkungen für die jüdische Bevölkerung nahmen unter den Bedingungen des Krieges schnell zu. Am 12. September wurden ihr für den Lebensmitteleinkauf besondere Läden zugewiesen, die in „arischem“ Besitz sein mussten. Zugleich wurden bei Juden Durchsuchungen nach „Hamsterwaren“ erlaubt, die nach Gutdünken der Behörden beschlagnahmt und die der „Hamsterei“ Verdächtigen kurzerhand in Schutzhaft genommen werden konnten.
Am 20. September ordnete Heydrich per Runderlass an, dass Juden und „Mischlingen“ künftig der Besitz von Rundfunkgeräten untersagt sei, womit ihnen eine zentrale Informationsquelle und das wichtigste Unterhaltungsmedium entzogen wurde; lediglich für privilegierte Mischehen galten Ausnahmebestimmungen. Drei Tage später mussten die vom Erlass Betroffenen ihre Rundfunkgeräte - an ihrem höchsten Feiertag Jom Kippur - persönlich und ohne jede Entschädigung auf den örtlichen Polizeirevieren abliefern. Selbst bei solch ohnehin schon verletzenden Anordnungen verzichtete das NS-Regime nicht auf spezielle Erniedrigungen, denn die Anweisung bedeutete, dass die Juden den für Jom Kippur vorgeschriebenen ganztätigen Gebetsdienst nicht einhalten konnten, ohne sich strafbar zu machen.
Trotz aller diskriminierenden und sie aus dem gesellschaftlichen Leben ausschließenden Maßnahmen blieben die jüdischen Institutionen bestrebt, auch unter den Kriegsbedingungen ihre Bildungs- und Kultureinrichtungen aufrechtzuerhalten. Nachdem mit Kriegsbeginn zunächst sämtliche Veranstaltungen des Jüdischen Kulturbunds verboten worden waren, gelang es, diese - wenn auch in eingeschränktem Umfang - noch im September 1939 wieder aufzunehmen. Allerdings fanden außerhalb Berlins meist nur noch kleinere Veranstaltungen und Filmvorführungen statt, bis die Gestapo die jüdische Kulturorganisation am 11. September 1941 endgültig auflösen sollte.
Noch im ersten Monat des Krieges unternahm das NS-Regime erste Schritte, um die Ankündigung Hitlers vom 30. Januar des Jahres in die Tat umzusetzen, und beschloss, dass große Teile der jüdischen Bevölkerung aus dem Reichsgebiet abgeschoben werden sollten. So verkündete Reinhard Heydrich am 21. September 1939 in einer Besprechung von Amts- und Einsatzgruppenleitern die grundsätzliche Zustimmung Hitlers zur Abschiebung der gesamten jüdischen Bevölkerung. Nicht zuletzt zu diesem Zweck wurden kurz darauf, am 27. September, die zentralen Ämter der Sicherheitspolizei (Gestapo und Reichskriminalpolizeiamt) mit dem Sicherheitshauptamt des Reichsführers SS (SD) zum Reichssicherheitshauptamt (RSHA) unter Leitung von Heinrich Müller vereinigt. Damit hatten Himmler und Heydrich jene Behörde geschaffen, die künftig das deutsche Vorgehen gegen die Juden im Reich und in Europa lenkte und zur zentralen Organisation zur Durchführung der „Endlösung“ wurde.
Die vom RSHA eingesetzten und gelenkten Einsatzgruppen fanden ihr Haupttätigkeitsfeld zunächst jedoch in Polen, wo sie im Gefolge der Wehrmacht vorrückten, um gegen die politischen und gesellschaftlichen Eliten des Landes vorzugehen und die Bevölkerung zu terrorisieren. Dabei wurden die polnischen Juden in besonderem Maße zur Zielscheibe der deutschen Propaganda. Sie wurden als Inbegriff des Ostjudentums stilisiert, dem gegenüber ein hartes Vorgehen notwendig sei. Schon am 21. September erließ Heydrich daher Richtlinien zur Konzentrierung der jüdischen Bevölkerung im besetzten Polen und skizzierte den Plan zur Schaffung eines „Judenreservats“ östlich von Krakau, womit der Prozess der Gettoisierung der jüdischen Bevölkerung in Polen seinen Anfang nahm. Hierhin sollten künftig auch, wie Heydrich am 22. September dem Oberbefehlshaber des Heeres mitteilte, „alle Zigeuner und sonstige Unliebsame“ abgeschoben werden.
Am 29. September erläuterte Hitler im engsten Kreis seine künftigen Pläne für Polen. Demnach sollte das deutsch besetzte Gebiet „in drei Streifen“ geteilt werden. „Zwischen Weichsel und Bug“ sollte „das gesamte Judentum (auch aus dem Reich) sowie alle irgendwie unzuverlässigen Elemente“ konzentriert werden. An der Weichsel sollte ein „unbezwingbarer Ostwall“ entstehen, während jenseits der bisherigen Grenze „ein breiter Gürtel der Germanisierung und Kolonisierung“ vorgesehen, wobei dieser „Siedlungsgürtels“ schon sehr bald sehr viel weiter nach Osten verlegt werden sollte.