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Elternbriefe des KLV-Lagers "Kaiserhof" in Haindorf (1943)

Die hier präsentierten "Elternbriefe" aus dem KLV-Lager "Kaiserhof" aus dem Jahr 1943/44 stellte der im September 1928 geborene Helmut Weingarten im Jahr 1999 zur Verfügung. Leider konnten die Dokumente damals nur herkömmlich fotokopiert werden. Der Leihgeber war Schüler des Gymnasiums Köln-Lindenthal und mit einigen Klassen (rund 130 Schüler) nach Haindorf verschickt worden. Er kehrte im Frühjahr 1944 mit seinen Klassenkameraden nach Köln zurück.

Heinz Boberach, im November 1929 in Köln geboren, nahm als Schüler des Gymnasiums Gyrhofstraße in Köln-Lindenthal 1941 und 1943 an zwei KLV-Verschickungen nach Lippersdorf und nach Haindorf teil. Hierüber berichtete er dem NS-Dokumentationszentrum im Jahr 1999:

Ja, da kamen wir dann also in eine Klasse herein von zwischen 30 und 40 Sextanern, hatten als Klassenlehrer den Studienrat Willibald Gaul, der damals schon über sechzig war, ein richtiger Deutsch-Nationaler war, und auch einen sehr nationalbewussten Unterricht machte. Ich habe dann später gemerkt, ganz so schlimm war es dann auch wieder nicht. (…)

Dafür war der Direktor, Erwin Bürger, ein überzeugter Nationalsozialist. Ein alter Kämpfer, gleichzeitig Ortsgruppenleiter in der Ortsgruppe Stadtwald oder Julius Schreck - jedenfalls in einer der Lindenthaler Ortsgruppen, Gauredner der NSDAP. Facultas hatte er merkwürdigerweise für Latein und evangelische Religion und Geschichte. Und der, genannt der "Zeus", versäumte natürlich keine Gelegenheit, patriotische Reden - etwas 1940 im Hochflug der Siege - in der Aula zu halten. (…) Trotzdem hatten wir da auch zwei Lehrer, die durchaus entweder neutral oder sogar gegen den Nationalsozialismus waren. Der eine war unser sehr geschätzter Englischlehrer Schüller, Dr. Otto Schüller aus Niehl, der dann so nach den Luftangriffen zu sagen pflegte: "Ja, ja, bei allen Parteigenossen sind die Fenster schon repariert, aber ich bin ja nur Vg. (also Volksgenosse - womit er bekannt gab, dass er nicht in der Partei war) - ich muss dann halt noch ein bisschen länger warten." Oder: Einer meiner Mitschüler - jetzt hier in Köln einer der Kardiologen mit einer großen Praxis - der wurde schon sehr früh HJ-Führer. Das war nichts Besonderes, - aber der erste, der bei uns in der Klasse halt Jungenschaftsführer wurde, und er meinte, er könnte dann schon mal gelegentlich wegen dienstlicher Verpflichtung weniger Aufgaben machen. Der wurde dann ständig auf die Schippe genommen: "Na ja, nachdem du jetzt demnächst Bannführer wirst, da meinst du wohl, du brauchst kein Englisch mehr zu lernen!" oder so, was insofern auch wieder riskant war, als der Vater dieses Jungen, ein Optikermeister, der Ortsgruppenpropagandaleiter unseres Direktors war. Trotzdem, der Dr. Schüller riskierte das. (…)

Mit dieser Schule bin ich dann 1941 nach dem ersten Luftangriff in die Kinderlandverschickung gegangen. D.h., die damaligen Klassen 1 - 4, Sexta bis Untertertia, da wurden die Eltern aufgefordert, ihre Kinder aus dem luftgefährdeten Köln in Sicherheit zu bringen. Zunächst sollte es nach Ahlbeck an der Ostsee gehen. Und dann hieß es nachher, es geht ins Erzgebirge. Und im Juni 1941 sind dann zwischen 80 und 90 Schüler dieser Schule geschlossen unter Leitung unseres Klassenlehrers Gaul - der Oberstudiendirektor kam nachher noch dazu - nach Lippersdorf im Kreis Marienberg im Erzgebirge, etwa 50 km östlich von Chemnitz, oberhalb des Flöhatales, in ein Dorf ohne Bahnstation mit rund tausend Einwohnern verschickt worden, weil dort sich ein Kinderheim der Stadt Chemnitz befand. Was also für die Zwecke des KLV-Lagers Oberschule Köln-Lindenthal herangezogen worden war. Da zogen wir ein, - es gab vier Schlafsäle, für jede Klasse einen. Das Gelände war rundherum umzäunt.

Es war ursprünglich mal ein Schlösschen gewesen, das Hauptgebäude. Und dann haben also unsere Lehrer eine Art Kadettenanstalt aufgezogen. Anders kann man es nicht nennen. Das ging so weit, dass - selbstverständlich - jeden Morgen Flaggenparade war, jeden Abend die Flagge eingeholt wurde. Dazu musste man Uniform anziehen. Wer keine Uniform hatte, bekam eine. Die mussten dann aber, um geschont zu werden, wieder ausgezogen werden. Man muss sich vorstellen: Es sind zwischen elf- und fünfzehnjährige Schüler gewesen. Und die Führer, die das kommandierten, die waren ungefähr siebzehn, denn die wurden im nächsten Jahr Soldat, die waren so Jahrgang 1924. Die wurden 1942 eingezogen nach einem Notabitur. Das hieß zum Beispiel, dass auf allen Gängen im Lagergebiet durch straffe Haltung und Blickwendung zu grüßen war: Führer und Lehrer. Das hieß, dass, wenn ich das Zimmer eines drei oder vier Jahre älteren Führers betrat, ich am Eingang "Männchen bauen" und sagen musste: "Junggenosse Boberach bittet, eintreten zu dürfen." Und das jeden Tag dreimal. Wenn man einmal dahin mußte.

Das hieß, dass Spindappelle stattfanden, nach Art des vom Militär bekannten Maskenballs. Das heißt also, wenn irgendetwas vorgekommen war, dann ließen die vor den Spinden antreten, die in einem extra Raum waren, wo alles so Eckchen an Eckchen war, dann hieß es: "Weggetreten - antreten im Badezeug!" - "Weggetreten - angetreten in Winteruniform mit langer Hose!" - oder was also immer denen so einfiel. Oder es gab die beliebte Disziplinarstrafe: "Knie gebeugt in 10 Zeiten!" Die Grundstellung war 1 und in der Hocke war 10. Und dann kommandierte der: "Drei! Fünf! Sieben! Zehn! Eins!" - Was dann unter Umständen damals noch verschärft werden konnte, dass man eine Schüssel mit Wasser auf die Arme gelegt bekam. Es fehlte bloß der Karabiner. Den gab es nicht.

Jede Klasse bildete einen Zug mit einem Zugführer, und der Zugführer der ältesten, also der vierten Klasse, war gleichzeitig der sogenannte Lagermannschaftsführer. Es war auch für jede Klasse ein Lehrer mit da in dem Dorf. Es wurden dann viele Geländespiele veranstaltet. Aber man durfte das Lager nur mit Genehmigung verlassen.

Alle Briefe mussten offen eingeliefert werden - wurden zensiert -; man kriegte sie wieder, wenn irgendwas drin stand. Man hatte auch keine Gelegenheit etwa einen Brief herauszuschmuggeln und so in den Briefkasten zu werfen. Man konnte gar keine Briefmarken kaufen, eine Post war in dem Ort nicht, und Briefmarken bekam man nur, wenn man einen Brief vorlegte, der dann gleichzeitig kontrolliert werden konnte.

Es gab den normalen Unterricht. Jeden Morgen vier Stunden Unterricht. Ja, das war Fachunterricht. Jeder unterrichtete sein Fach. Der Englischlehrer unterrichtete in allen Klassen Englisch und der Deutschlehrer in allen Klassen Deutsch. Nun war das ja ein Schuljahr, was doppelt lang war, weil da die Versetzung vom Frühjahr und Herbst umgestellt wurde, - so dass nicht sonderlich viel an Schulleistungen nötig waren. Im Grunde war die Hälfte dieses halben Jahres ja das angehängte Viertel der Tertia.

Ich habe dann da in diesem Lager auch einen der schlimmsten Tage meines Lebens erlebt. Das war am 22. Juli 1941 - Sonntagmorgen - Flaggenappell - kommt der Lagermannschaftsführer und schreit: "Wir haben Krieg mit Russland! Wir sind in Russland einmarschiert." Da ich mich auch als Quintaner schon für Geschichte interessiert hatte, und die Geschichte Napoleons kannte, habe ich daraufhin spontan gesagt: "Donnerwetter - jetzt haben wir aber den Krieg verloren." Weil mir sofort Napoleon dazu einfiel. Das haben meine Mitschüler sehr übel genommen. Ich bin also im Anschluß an das Wegtreten von denen im Vorraum des einen Lagergebäudes mit dem Schulterriemen zusammengeschlagen worden, wobei sich der ansonsten von mir sehr geschätzte Herr Studienrat Gaul auch mit hervortat, - mir mit überschlagender Stimme vorwarf, ich sei kein Deutscher mehr. Dann sprach er - wir sagten immer, "er ist der einzige Sopran im Kölner Männergesangsverein" -, das geht mir heute noch durch Mark und Bein, wie er da vor mir steht und die eigentlich noch anstachelt, mich zu verhauen. Ich blieb dann liegen, und die anderen machten irgendeinen Ausmarsch zu einer Kinovorstellung, - ich wurde auch nicht mitgenommen, - ich war da also ziemlich in Verruf geraten.

Ich muss jetzt immer noch erzählen, dass diese Geschichte auch eine zweite Seite hat, denn ich habe diesen Studienrat das letzte Mal getroffen im Winter 1944, ich glaube in unserer alten Schule - es muss Ende 1944 gewesen sein, bevor Köln geräumt wurde. Die Schule war größtenteils zerstört, und ich hatte mir da irgendetwas noch beschafft - und stehe mit ihm im Luftschutzkeller dieser Schule. Und da nimmt mich der alte Mann auf Seite und sagt: "Hör mal, wir haben dir doch damals in Lippersdorf bitter Unrecht getan. Du warst ja wohl klüger, als wir Alten alle zusammen." Ich muss sagen, das hat mir wahnsinnig imponiert. Ich hätte mich ja jetzt rächen können und den Mann anzeigen. Der wäre ja vor den Volksgerichtshof gekommen. Dass der Mann gegenüber einem mittlerweile dann 15jährigen Schüler die - doch muss ich sagen - Größe aufbrachte, das zuzugestehen, in einer für ihn politisch gefährlichen Situation zu sagen: "Du hast damals Recht gehabt und wir haben Dir Unrecht getan." Das meine ich, gehört auch in dieses Kapitel Schulzeit im "Dritten Reich". Wie das Ganze überhaupt ambivalent ist - dieser Oberstudiendirektor, der also einerseits die schlimmste Disziplin machte und sicherlich ein überzeugter Nazi war, dessen Tochter Arbeitsdienstführerin wurde -, der hatte dann durchaus aber auch andere Seiten.

Ich weiß, als wir 1943 wieder in einem KLV - Lager waren, im Sudetenland, bei Reichenberg, und meine Mutter mich auch da besuchte im Sommer 1943, also nach Stalingrad, als - wie es um die Zeit in den SD-Berichten heißt - die Leute sich ausrechneten, wie weit es von Stalingrad bis zur jetzigen Front und von der jetzigen Front bis zur Reichsgrenze sei - als dann meine Mutter ihn fragte : "Sagen sie mal, Herr Direktor, was haben Sie eigentlich für Vorkehrungen getroffen, wenn der Russe durchbricht, und die Tschechen hier einen Aufstand machen. Wie kriegen Sie da unsere Jungen wieder raus?" Da hat er die genauso fassungslos angeguckt, wie der Stammführer mich fünf Jahre vorher, - und gesagt: "Um Gottes Willen, Frau Boberach, an so was habe ich noch nie gedacht - das darf man doch nicht denken!" "Ja", hat meine Mutter gesagt, "denken darf man das nicht, aber das hindert einen ja nicht, immer mit dem Schlimmsten zu rechnen." "Ja", sagte er, "dann werde ich doch morgen gleich auf die Gauleitung fahren, nach Reichenberg und hören, ob die da überhaupt Evakuierungspläne haben." Der hätte meine Mutter auch anzeigen können und hat es nicht getan. Das ist das, was ich eben mit der Ambivalenz des NS-Regimes meine, die heute viel zu oft vergessen wird, weil man es immer nur schwarz-weiß malen will.

Oder - noch mal nach Lippersdorf zurück - da kam der neue Lagermannschaftsführer und hat dann den Bogen überspannt. Der hat dann mit uns auch wegen irgendeiner dummen Geschichte - das war schon in fortgeschrittener Jahreszeit, das muss so im Oktober 1941 gewesen sein - bei Dunkelheit nach fünf Uhr einen Geländedienst angesetzt und hat uns also mit allen Schikanen da durch den Dreck gejagt, also mit Entengang, Robben und Hinlegen und Fliegeralarm und so weiter. Richtig eine Stunde lang, mit übelster "Schleifer-Platzek-Manier" - und daraufhin ist die älteste Klasse, die damals 14-jährigen so in Dreck und Speck, wie sie waren - als der dann auch noch sagte: "So und in einer Stunde ist dann Uniformappell und dann sind alle Uniformen sauber!" sind die, so wie sie waren, aus dem Lager rausmarschiert, in das Gasthaus, wo sie wussten, dass da die Lehrer ihren Stammtisch hatten, haben den Direktor rausgeholt und haben gesagt: "Bitte, gucken Sie sich an, wie der Lagermannschaftsführer mit uns umgegangen ist. Das machen wir nicht mehr mit." Und dann ist der sofort eingeschritten; - am nächsten Morgen war der Bannführer aus Marienberg da und am Abend hatte der Lagermannschaftsführer seine Koffer gepackt und war nach Köln zurückgeschickt worden. Wir wurden für unsere Zivilcourage belohnt, dass wir das nicht hätten mit uns machen lassen, denn das wäre sicher eine Schikane gewesen, die man nicht hätte dulden müssen.

Ansonsten waren die Verhältnisse dann in dem Lager 1943 im Haindorf im Isergebirge das genaue Gegenteil von 1941. Es gab da kein Kinderheim oder keinen geschlossenen Komplex, sondern es waren fünf Hotels beschlagnahmt worden, und damals waren es dann statt 80 etwa 130 Schüler, mit entsprechend auch mehr Lehrern, also auch ein größerer Betrieb. Und diese andere Unterbringung in den Hotels, in denen es auch nur Zimmer mit maximal vier Betten gab, die kam doch einem Internatsbetrieb wieder sehr viel näher. Es gab keinen Uniformzwang mehr, Flaggenappell fand nur noch sonntags statt, man konnte rausgehen und kommen, wann man wollte. Es gab ein Kino im Haus mit zweimal wöchentlichem Programmwechsel. Das haben wir also alles als sehr viel freier empfunden. Und da hat dann auch - wenn ich davon absehe, dass man mal ein paar Wochen damit verbringen musste, Parademarsch zu üben - den berühmten Übergang vom Stampfschritt zum Stechschritt auf ein bestimmtes Zeichen und wieder Stechschritt zum Stampfschritt - weil irgendeine Parade stattfinden sollte, die dann nie stattgefunden hat - war also auch das Vormilitärische da sehr viel friedlicher. Der Unterricht war auch - weil mehr Lehrer da waren - qualifizierter, als zwei Jahre vorher.

Es hat sich wohl einiges geändert - sicherlich war die Unterbringung nicht unwichtig -, die Kontrolle war einfach nicht so. Wenn die alle in einem Schlafsaal sind und ihre Spinde wieder in einem Raum haben, ist das etwas anderes, als wenn sie 30 oder 40 Stuben beaufsichtigen müssen. Und wenn kein Zaun um das Lager ist, und es steht an einer belebten Hauptstraße. (...) Bei 130 haben sie auch nicht mehr den Überblick - ist der jetzt nun in dem Haus oder in jenem untergebracht -, das war einfach nicht mehr machbar. Der Ort hatte auch eine Bahnstation, - man konnte in den Zug steigen und nach Reichenberg fahren oder nach Friedland in die Kreisstadt, sonntags, wenn man wollte. Das war sicherlich so, - die äußeren Bedingungen ließen eine solche Kasernierung einfach nicht mehr zu. Auch die Grußpflicht - die Leute hätten ja geguckt, wenn man auf der Straße am Lehrer so mit Blickwendung vorbeimarschiert wäre. Das können sie alles nur in einem geschlossenen Gelände machen. Das war so die Zeit - ich bin in der Schule gewesen bis 1944, bis wir also dann in die Gegend von Uckerath im Siegkreis aufs Land gezogen sind wegen der Luftangriffe. Ich bin dann noch ein Vierteljahr in Siegburg in der Schule gewesen, was wieder etwas ganz anderes war - aber das gehört hier ja nicht dazu.

 

Der ebenfalls nach Haindorf verschickte, Ende 1930 geborene Ewald Beckers erinnerte sich 1999:

Ich habe an zwei Verschickungsaktionen nach Niederschlesien, Deutsch Wartenberg (1942) und ins Isergebirge nach Haindorf (1943/44) teilgenommen. Eine Verschickung unter Zwang oder Druck ist mir nicht bekannt. Die Teilnahme erfolgte freiwillig und mit Zustimmung der Eltern.

Den Alltag im Lager regelte ein sogenannter "Dienstplan". Wir machten außerdem viele Wanderungen im Wald und an der Oder. Der Schulunterricht war normal, der Abend wurde unterhaltend gestaltet. Der Lehrer Hoßdorf war ein praktizierender Katholik und hat uns angehalten, den Gottesdienst sonntags zu besuchen.

Ich habe meinen Eltern schreiben können. Aber vermutlich wurden die Briefe kontrolliert.

Der Lehrer Hoßdorf hatte alles im Griff. Zumindest habe ich nichts anderes gemerkt. Der Direktor Bürger war vermutlich ein bedeutender Nazi mit schön dekorierter Uniform (Gauredner o.ä.). Mit den Lagermannschaftsführern hatte er keine Schwierigkeiten.

Die Rückkehr im Frühjahr 1944 mit Lehrern war reibungslos per Eisenbahn.